Von Vergangenheitsbewältigung zu Exploitation
Ja, ja, ich weiß, der bedeutende Nachkriegsregisseur Wolfgang Staudte hat die großen Filme der Nachkriegszeit geschaffen, die die deutsche Vergangenheit ungeschönter aufarbeiteten als alles andere Vergleichbare. „Die Mörder sind unter uns“ (1946), „Rotation“ (1948), „Der Untertan“ (1951) oder „Rosen für den Staatsanwalt“ (1959) sind die bekanntesten Beispiele dafür. Mit Helmut Käutner, Kurt Hoffmann und Bernhard Wicki steht er in der Filmwissenschaft für das Beste, was der deutsche Film nach 1945 zustande brachte. Und selbst das wurde meist nur als leidlich gut bewertet. Staudtes Beteiligung als ein Stammregisseur der „Kommissar“- Fernsehserie wurde bereits als Sündenfall diffamiert, doch es sollte für die „seriöse Filmkritik“ noch schlimmer kommen: mit „Fluchtweg St. Pauli…“ machte er den Schritt vom Fegefeuer in die heißeste Höllenglut. Die unübersichtliche Flut von Reeperbahn-Filmen in den späten 1960er Jahren waren größtenteils berstende Exploitation zwischen Sittenfilm, Kriminalfilm und Hintertreppen-Melodram, meilenweit entfernt von schwermütiger Vergangenheitsbewältigung. Dass ein renommierter Mann wie Wolfgang Staudte sich auf dieses schlimmste Sub-Genre einlässt, kann man aber auch als Geschenk begreifen. Denn Staudtes Film ist fast so etwas wie der krönende Abschluss der Reeperbahn-Filme, auf jeden Fall ist sein Film unter den besten dieses Genres einzuordnen. Selbst namhaften Regisseuren wie Alfred Weidenmann war nicht viel mehr eingefallen, als schwerfällig erzählte Episodenfilme abzudrehen, mit denen die alten Männer aus der traditionellen Filmbranche erst einmal die eigenen aufpeitschenden Sinneseindrücke verarbeiten mussten, die das St. Pauli-Milieu zu bieten hatte.
Was Staudte besser macht, ist zuallererst einmal, den Plot auf sehr wenige wichtige Figuren zu beschränken. Die Handlung ist klar und übersichtlich, es geht um zwei ungleiche Brüder, der eine anständig, der andere kriminell. Der Kriminelle flieht aus der Justizvollzugsanstalt, um sich mit der Beute aus einem Bankraub ein schönes Leben zu machen. Doch leider gibt es die Beute nicht mehr und ihm bleibt nur sein Bruder, der ihm helfen könnte, die Flucht zu finanzieren. Dazu ist der gute Bruder jetzt mit der Ehefrau des Bösen liiert, was die Story kräftig befeuert. Außerdem schafft es Staudte, sich von der deutschen Krankheit zu lösen, viel zu komplexe Drehbücher theaterhaft zu erzählen. Hier ist alles sehr filmisch gedacht. Schon der Gefängnisausbruch und die darauffolgende Flucht lassen völlig vergessen, was wohl detailliert im Skript stand. Regie und Kamera beweisen vitale Frische. So macht es Spaß, der Aktion zu folgen. Dazu liefert Peter Schirmann in inflationärer Fülle 70er-Sounds mit kreischender Hammond-Orgel, verzerrten Gitarren und Percussion. Man vergisst fast, dass es Peter Thomas gibt.
Die übersichtliche Geschichte mit viel Aktion funktioniert aber nur so gut, weil Staudte mit Horst Frank und Heinz Reincke die optimalen Darsteller zur Verfügung standen. Die deutschen Filme früherer Zeit deckelten die charismatische Vitalität von Horst Frank zu sehr, die Italo-Western hingegen unterforderten sein schauspielerisches Hochtalent. Als ein Beispiel unter vielen sei nur die Szene erwähnt, in der ihm klar wird, das die Beute futsch ist. Die Mimik-Nahaufnahme erzählt Bände. Ich bin geneigt zu behaupten, dass dies DER Horst Frank-Film schlechthin ist. Allerdings fällt mir dann auch sofort die grandiose Schlussszene aus der „Sonderdezernat K 1“-Folge „Ganoven-Rallye“ ein. Frank schafft es, Bösewichter auf eine menschlich nachvollziehbare Weise darzustellen. Nichts ist nur stereotyp, man kann das Seelenleben seiner Figuren aus jeder Pore spüren. Der gute Bruder ist Heinz Reincke, genauso charismatisch und echt. Man hat ihn deswegen immer wieder als Volksschauspieler bezeichnet; sein temperamentvolles Spiel wirkt stets aus dem Bauch heraus. Sicher werden einige denken, dass Heinz Reincke hier zu sehr auf die Pauke haut, insbesondere, wenn er die schon ausgesprochen dämliche Gutmütigkeit seiner Figur vorführt. Ich bin in den 1970er Jahren in Norddeutschland auf dem Lande aufgewachsen und muss sagen, dass sowohl Heinz Reincke als auch Horst Frank in Gestik, Mimik, dem ganzen Habitus und vor allem der Sprache mich frappierend an diese Zeit erinnern. Flashback! Und ich kann bezeugen, exakt genauso war es, so redete man. Die kühle Christiane Krüger als Frau zwischen den Brüdern überzeugt als waschechte Hamburgerin selbstverständlich auch perfekt. Dann gesellt sich noch Klaus Schwarzkopf als polizeilicher Ermittler dazu und beweist, dass er für seine Rolle als „Tatort“-Kommissar Finke nicht üben muss. Er beherrscht diese Rolle nämlich schon hier perfekt. Sigurd Fitzek als naives Faktotum von Horst Frank ist genauso makellos.
Natürlich ist das alles Exploitation, aber diese ist insofern glaubhaft, als dass man weiß, die handelnden Personen sind keine Geistesgrößen, sondern einfache Geschöpfe voller Leben. Das Gute etwa, das Heinz Reincke verkörpert, ist nicht einfach brave Spießbürgerlichkeit. Vielmehr ist es das Bestreben eines überforderten Verlierers, sich in einer maroden Realität so viel Anstand wie möglich zu bewahren. Auch wenn es dämlich sein sollte. Selbst die Randgeschichte aus dem dekadenten Elbchaussee-Milieu samt betrunkener Ehefrau, die sich im Taxi entkleidet, ist weit weniger dumm ersonnen als spekulative Szenen in anderen Reeperbahn-Filmen. Neben Sex und Gewalt muss es im Exploitation-Genre auch Action in einer Sand- oder Kiesgrube geben. Dieser günstige Drehort ist so etwas wie das Markenzeichen des Genres. Schon in Jerry-Cotton-Krachern lagen Kiesgruben erstaunlich kurze Autosekunden von Manhattan entfernt, Helmut Berger fühlt sich da in „Der Tollwütige“ (1977) genauso zuhause wie viel später auch Regie-Koryphäe Quentin Tarrentino, der ganz sicher etwas mit einem Gangstergiganten wie Horst Frank glücklich geworden wäre.
Natürlich kann man heute meckern. Frauen sind sexy, Männer sind brutal. Muss man dieses Klischee nicht anprangern? Es war und ist aber so Realität auf der Hamburger Lebemeile, in den 1970ern noch mehr als heute. Und Staudte zeigt mit seinen Darstellern weit mehr als solch stereotype Plattheiten.
Mit diesem kleinen Exploitation-Reißer, der technisch schon vom Budget her niemals mit den amerikanischen Konkurrenten mithalten konnte, der aber auf feine Weise seine Filmstory transportiert, zeigt Wolfgang Staudte, wozu er neben seinen großen Bewältigungsfilmen fähig ist. Und dass er tatsächlich ein großer Regisseur ist. Wer immer noch meckern will, dem sei gesagt: sieh hin, so waren die frühen 70er!
Verfasser: Hans-Jürgen Osmers I Sämtliche Texte unterliegen dem Urheberrecht und dürfen ohne Zustimmung und Quellenangabe nicht anderweitig verwendet werden.